Tagungsbericht: Zukunft eines untergegangenen Staates

Die Zukunft eines untergegangenen Staates. Die DDR als Gegenstand von Forschung, Lehre und der Politischen Bildung‘, 27. Februar bis 1. März 2003, Wittenberg – ein Tagungsbericht

Jens Hüttmann

Aus zwei Gründen verglich Freud in einem kurzen Text von 1925 den ‚Wunderblock‘ – jene wächserne Schreibtafel, die nach Entfernen des Deckblatts eine Spur des Geschriebenen aufbewahrt – mit dem menschlichen Gedächtnis: erstens würden beide eine unbegrenzte Aufnahmefähigkeit für neue Wahrnehmungen besitzen, zweitens seien beide aber auch ein Speicher für veränderliche Erinnerungsspuren (vgl. /1/).

Dieser Zusammenhang lässt sich auf die wissenschaftliche Beschäftigung mit der DDR seit 1989 so übertragen: Auch an den Hochschulen ist von ‚alten Grabenkämpfen‘ manche Spur, wenn nicht gar Narbe geblieben, gleichzeitig aber scheinen die ganz hitzigen Debatten, etwa im Zusammenhang mit der Abwicklung, der Totalitarismusthese oder der Kritik an der westdeutschen DDR-Forschung, von neuen Wahrnehmungen, Ansätzen und Herausforderungen überlagert zu sein.

Einerseits ist dabei im Vergleich inzwischen ein fortgeschritteneres Stadium historischer Reflexivität erreicht worden als 1958, also nach 13 Jahren deutscher Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus. 1200 Forschungsprojekte seit 1990 – so Ulrich Mählert in der neuesten Auflage des Vademekums DDR-Forschung (vgl. /2/) – sprechen eine eindeutige Sprache.

Andererseits aber hatte eine Studie des Instituts für Hochschulforschung an der Universität Halle-Wittenberg (HoF Wittenberg) ermittelt, dass die Beschäftigung mit dem Thema DDR in der deutschen Hochschullehre massiv rückläufig ist – sie war 2001 auf dem vergleichsweise niedrigen Stand von 1990 angekommen (vgl. /3/). Insbesondere dieser Befund und die Frage nach einer Erklärung für diese Themenkarriere in den 90er Jahren war Anstoß für die von HoF Wittenberg gemeinsam mit der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur veranstaltete Tagung „Die Zukunft eines untergegangenen Staates. Die DDR als Gegenstand von Forschung, Lehre und der Politischen Bildung“, die vom 27. Februar bis 1. März in der Stiftung Leucorea in Wittenberg stattfand.

Die dort diskutierten Fragen waren etwa: Auf welche Art und Weise konstruieren Forschung, Lehre und Politische Bildung gegenwärtig und zukünftig ein Gedächtnis an die DDR? Inwiefern setzen sich diese Bereiche mit einem sich anderswo konstituierenden Gedächtnis – etwas im Alltagsbewusstsein ihrer ehemaligen BürgerInnen – kritisch auseinander? Mit welchen Strategien, Inhalten und Motivationen wird sich jener ‚Vergangenheitsbearbeitung‘ angenähert? Wer sind die Akteure von DDR-bezogener Lehre und Forschung? Ist es möglich, diesbezügliche disziplinäre Spezifika zu kennzeichnen? Wie gehen andere Bereiche der Gesellschaft – insbesondere Schule und Neue Medien – mit der DDR-Geschichte um?

Das Eröffnungspanel fragte danach, wie die beiden verblichenen deutschen Staaten mit ihrer Vergangenheit umgegangen sind. Heinz-Dieter Kittsteiner (Frankfurt/Oder) beleuchtete „Geschichtstheoretische Hintergründe des historischen Selbstverständnisses der DDR-Geschichtswissenschaft“ und argumentierte anhand dreier Thesen: Erstens habe es im Gegensatz zur Bundesrepublik durch das DDR-Selbstbild als ‚Sieger der Geschichte‘ weiterhin ein starkes Theodizee-Motiv gegeben, das es erlaubt hätte, das weltgeschichtliche Übel des Holocausts in einen insgesamt positiven Verlauf der Geschichte einzubetten – der Nationalsozialismus hatte gemäß der DDR-staatsoffiziellen Version gegen seine Intention zum Guten gewirkt. Dies hätte zweitens einen ‚Geschichtsoptimismus‘ nach sich gezogen, der im Widerspruch des einerseits erreichten Sozialismus und dem gleichzeitig weiterhin existierenden Weltmarkt situiert gewesen wäre. Eine kritische Realitätskontrolle durch die Wissenschaft hätte drittens nicht stattgefunden – auch der Versuch, dies über ein besonders heroisches Menschenbild zu kompensieren, hätte nicht weiter geholfen.

Martin Sabrow (München/Potsdam) und Bernd Faulenbach (Bochum) sprachen zur „Geschichtswissenschaft in der DDR und in der Bundesrepublik vor 1989“. Während Sabrow einen diskursanalytisch-ethnographischen Blick, insbesondere auf die Akteure der DDR-Geschichtswissenschaft richtete, präsentierte Faulenbach einen chronologischen Überblick zur BRD-Geschichtswissenschaft und ihre Stellung, die sie jeweils zur DDR einnahm: Während in den 50er Jahren der Fokus zunächst auf Wiedervereinigung und nationales Gedächtnis gerichtet gewesen sei, der in den 60er und 70er Jahren von zahlreichen Paradigmenwechsel, insbesondere durch die Sozialgeschichte, erschüttert worden sei, charakterisierte er die 80er Jahre als Phase des Übergangs und der Trennung beider deutschen ‚Geschichten‘, die mit der Hoffnung westdeutscher Historiker auf die Wandlungsfähigkeit der DDR verbunden gewesen sei.

Wie ging es weiter nach 1990? Ulrich Mählert (Berlin) lieferte 18 Thesen über „Die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur seit 1989/90: Motive, Akteure und Tendenzen“. Auf der einen Seite stehe inzwischen eine verstetigte breite und produktive Beschäftigung mit dem Thema, die sich andererseits aber auch jenseits von Jahrestagen wie des 17.Juni 1953 neu justieren und legitimieren müsse. Eine zentrale Frage sei, wie zukünftig insbesondere auch jüngere Wissenschaftler dazu ermutigt werden könnten, sich des Themas anzunehmen – eine Frage auch für Peer Pasternack (Berlin/Wittenberg), der vor allem darauf abstellte, dass heute an den Universitäten die MultiplikatorInnen der Zukunft, z.B. JournalistInnen und LehrerInnen, ausgebildet werden. Das Grundproblem der Nachwirkung der DDR seien sozialisatorische Prägungen, die durch „Es-war-nicht-alles-schlecht“-Stereotypen ebenso fortwirken, wie sie durch entgegengesetzte Stereotypen nicht aufgebrochen werden können. Deutlichster Ausdruck davon sei ein weitverbreiteter Mangel an Liberalität, der sich in der fehlenden Gelassenheit in der ostdeutschen Teilgesellschaft gegenüber beliebigen Abweichungen von kollektiv definierten Normen ausdrücke. Deswegen brauche es die Auseinandersetzung mit der DDR, und damit diese stattfinden könne, werde eine aufklärerisch orientierte Forschung und Lehre zum Thema benötigt, die eine stereotypenzersetzende Funktion wahrnimmt.

Aber auf welcher Weise – motivational, strategisch und inhaltlich – nähert sich die Wissenschaft der DDR an? Im Panel ‚Die DDR in Lehre und Forschung‘ stellte Jens Hüttmann (Wittenberg) die Fortsetzung des ‚Gelehrte DDR‘-Projekts vor. Unter der Überschrift „Sackgasse oder Zukunftsthema? Die DDR im akademischen Feld – eine Typologie“ identifizierte er eine Palette von fünf habitualisierten Reaktionen auf die Umfelder DDR-bezogener Lehre und Forschung. Die Validität dieser aus Experteninterviews und einer schriftlichen Befragung generierten ‚Wissenschaftlertypologie‘ exemplifizierte er anhand der jeweiligen Einschätzungen der Frage, ob eine alleinige Beschäftigung mit der DDR als ausreichend betrachtet werden würde, oder ob eine Kontexterweiterung des Themas anstehe. Letzteres sei bei allen Unterschieden die Mehrheitsmeinung der befragten WissenschaftlerInnen.

Hier setzte Konrad Jarausch (Chapel Hill/Potsdam) dann auch in seinem Vortrag über „Die Zukunft der ostdeutschen Vergangenheit – was wird aus der DDR-Geschichte?“ an. Er plädierte für eine asymmetrisch-verflochtene Parallelgeschichte bzw. die Integration des Themas in die gemeinsame deutsche Nachkriegsgeschichte, die zukünftig geschrieben werden müsse. Einerseits müsse hierzu der Aspekt der Diktatur thematisiert werden, andererseits müssten gleichrangig die Alltagserfahrungen ehemaliger DDR-BürgerInnen kritisch in diese Perspektive integriert werden.

Eine generationsspezifische Perspektive lieferten die beiden Studierenden Christian Lotz und Katja Naumann (Leipzig) in ihren Referaten analog zur Hase – Igel- Situation: Während das eine Tier so schnell rennen kann, wie es will, ist das erfahrenere (und auch stacheligere) immer schon am Ziel angekommen. Dieses Verhältnis schlage sich auch in konkreten Publikationen der jüngeren Zeitgeschichtsforschung nieder, so Naumann mit Verweis auf das aktuelle Buch Heinrich August Winklers (vgl. /4/): Wenn Deutschland aber schon immer – hier im Westen – angekommen sei, so stelle sich das Problem, aus welcher Motivation heraus man sich als junge Forscherin überhaupt noch mit der Zeit vor 1989 beschäftigen sollte. Denn schließlich sei das Ziel – obzwar nicht teleologisch definiert – von den Igeln längst vorgegeben. Der ‚Leipziger Kreis‘ jedenfalls, ein von beiden ReferentInnen gemeinsam mit zwanzig KollegInnen initiiertes Forum von Nachwuchswissenschaftlern und jungen Künstlern, schlägt längst eigene Wege ein (www.leipziger-kreis.de).

Einen generationellen Blick zurück unternahm Wolfgang Küttler (Berlin), der lange am Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften tätig war, nach dem Umbruch dann am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Küttler zufolge solle man den ‚Gespensterstreit‘ um die Folgen der Abwicklung einerseits nicht neu auffrischen, andererseits aber müsse man diese Zustandsbeschreibung im Hinterkopf haben, wenn man über die heutige Ausgrenzung und Verdrängung bestimmter methodischer Perspektiven sprechen wolle. Die zentrale Frage wäre dann: Wie können die unterschiedlichen Historiker-Generationen die jetzt gegebenen Möglichkeiten möglichst gemeinsam nutzen?

In mehreren Beiträgen ging es um disziplinäre Spezifika der DDR-Hochschullehre. In Ursula Heukenkamps (Berlin) Vortrag „Wie lässt sich DDR-Literatur lehren?“ spielte die Frage eines geeigneten methodischen Instrumentariums einer deutsch-deutschen Beziehungsgeschichte, anhand dessen auch Aussagen über Literatur in der BRD zu treffen möglich wären, die zentrale Rolle. Die Studierenden jedenfalls – so Heukenkamp – verlangen diesen Theoriebezug sehr wohl, da sie auf der Suche nach komplexeren Zugängen zur deutschen Literatur seien, als es bloße Lesarten und Eindrucksurteile möglich machen würden. Sie selber schlug dafür einen Bourdieuschen Ansatz vor, der darauf abzielen müsse, das literarische Feld nach seinen eigenen Kriterien bewerten zu können: also als einerseits nicht identisch mit dem politischen Feld, anderseits es nicht als Feld ‚reiner Literatur‘ zu betrachten. Die DDR-Literatur jedenfalls sei, allein unter der Folie des Totalitarismusdiktums betrachtet, gar nicht zu verstehen, obwohl gerade dieser Ansatz seit 1990 vielerorts Konjunktur gehabt hätte.

Hendrik Berth (Dresden) referierte über „DDR und Wiedervereinigung in der psychologischen Lehre und Forschung“. Nachdrücklich machte er auch auf die von ihm mit großem Erfolg betriebene Literaturdatenbank aufmerksam (www.wiedervereinigung.de), die mittlerweile mit über 42000 Literaturverweisen eine zentrale Anlaufstelle für WissenschaftlerInnen aus unterschiedlichsten Fachgebieten (Psychologie, Soziologie, Rechtswissenschaft, Sprach- und Literaturwissenschaften u.a.) darstellt.

„Die DDR im Schulunterricht“ lautete der Titel des nächsten Panels. Heike Mätzings (Braunschweig) Referat „Der Geschichtsunterricht in der DDR im Spannungsfeld von allgemeiner Wissensvermittlung und politischer Instrumentalisierung“ schloss sich eine kontroverse Diskussion darüber an, ob sich eine Geschichte des DDR-Schulunterrichts schreiben lasse, ohne dabei die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit in die Untersuchung mit einzubeziehen. Und heutzutage? Über „Das Bild der DDR in bundesdeutschen Lehrplänen“ referierte Ulrich Arnswald (Frankfurt a.M.), der derzeit im Auftrag der Stiftung Aufarbeitung eine gleichnamige Studie durchführt und dabei feststellte, dass viele Lehrpläne ganz einfach veraltet seien und alltags- und sozialgeschichtliche Fragen fast gänzlich ausgeklammert blieben.

Im Panel „DDR-Geschichte und Gesellschaft“ referierte Thomas Ahbe (Leipzig) über „Die DDR im Alltagsbewusstsein ihrer ehemaligen BürgerInnen“. Als Folge des seit 1990 praktizierten Ausschlusses breiter Erinnerungsbestände der ostdeutschen Bevölkerung, so seine These, habe sich ein Laien-Diskurs etabliert. (N-)Ostalgie sei insofern als Strategie zur ‚Zurückeroberung des Diskurses‘ zu interpretieren. Dies lässt sich auch auf die Darstellung von „DDR-Geschichte im Internet“ übertragen, für deren Analyse Dörte Hein (Leipzig) einen an Halbwachs und Assmann orientierten theoretischen Rahmen vorschlug. DDR-lebensweltliche Bestände, so einer ihrer Befunde, sollen die Erinnerungen der ‚user‘ aktivieren, um damit als ‚Stabilisatoren der Erinnerung‘ zu fungieren, die sich in einer ausschließlich herrschaftsgeschichtlichen Perspektive nicht entfalten könnten. Rainer Eckerts (Leipzig) Vortrag über „Zeitgeschichte im Museum“ stellte dann eine Synthese seiner persönlichen und professionellen Erfahrungen als Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums dar. Im Blick müsse man vor allem die Rezipienten haben, die die weit fortgeschrittene Musealisierung der DDR auf unterschiedlichste Art und Weise verarbeiten würden. Eckert mahnte besonders gezieltere Lehrerfortbildung an, auf die es – im Vergleich zur Optimierung von Lehrplaninhalten – vorrangig ankomme. Carl Deichmann (Jena) ließ in seinem Beitrag über „Die Stasi als Gegenstand der Lehre“ ebenso eigene Erfahrungen aus einem von ihm angebotenen Seminar einfließen.

Der Tagungsabschluss thematisierte den „Umgang der Politischen Bildung mit der DDR“. Die Leiterin der Landeszentrale in Brandenburg, Martina Weyrauch (Potsdam), stellte dabei ihr Konzept einer Abkehr vom traditionellen MultiplikatorInnenkonzept vor. Im Gegensatz dazu möchte sie durch einen stark dialogorientierten Ansatz, der alle BürgerInnen und Sinne anspreche, mit ihrem Haus eine Lücke füllen: DDR-Geschichte erschöpfe sich demnach weder in einer Herrschaftsgeschichte, noch in ihrer Darstellung als Kabarettnummer – wie gelegentlich in deutschen Kinos zu besichtigen. Marianne Birthler (Berlin) schließlich war der Abschlussvortrag „Mehr als ein Archiv – Beiträge der BstU zur Hochschullehre und Politischen Bildung“ vorbehalten, in dem sie deutlich machte, dass sie alle Hoffnung auf die Studierenden-Generation von heute und morgen setze: „Gras wächst nicht schneller, wenn man dran zieht!“.

Fazit: In welche Richtung weisen die neuen Wahrnehmungen des ‚DDR-Wunderblocks‘? „In der deutsch-deutschen Dialektik, da ist doch die Musik drin!“, stellte der Direktor des gastgebenden Instituts, Reinhard Kreckel (Wittenberg/Halle), in der Abschlussdiskussion heraus. Dabei verwies er auf die während der Konferenz immer wieder konstatierten Wechselwirkungen der ‚untoten DDR‘ (Pasternack) nicht nur mit der alten Bundesrepublik, sondern auch mit aktuellen politischen Bezügen. Dies gelte besonders für die Frage, wie die Qualität der zukünftigen MultiplikatorInnen beschaffen sein wird, die – im günstigsten Falle die Diskrepanz von Alltag und Herrschaft und unterschiedliche methodische Zugänge integrierend – „DDR-Geschichte vermitteln“. Die Tagungsbeiträge sollen in diesem Sinne bald publiziert werden.

Literatur:
/1/ Freud, Sigmund (1999) [1925], Notiz über den ‚Wunderblock‘, in: Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 1925-1931. Bd. 14. Frankfurt a.M., S. 3-8
/2/ Mählert, Ulrich (Hg.) (2002), Vademekum DDR-Forschung. 3. Auflage. Berlin
/3/ Pasternack, Peer (2001), Gelehrte DDR. Die DDR als Gegenstand der Lehre an deutschen Universitäten 1990-2000. Wittenberg. Unter Mitarbeit von Anne Glück, Jens Hüttmann, Dirk Lewin, Simone Schmid und Katja Schulze
/4/ Heinrich August Winkler (2000), Der lange Weg nach Westen. München. 2 Bände