Durch
die Vereinigung der Wittenberger Universität 1817 mit der Universität
Halle wurde Wittenberg als naturwissenschaftlicher Forschungsstandort bedeutungslos.
Die Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende stürmische Entwicklung der
Naturwissenschaften, speziell der Chemie und Physik, wurde von den Universitäten
getragen und blieb daher zunächst in Wittenberg ohne Widerhall.
In stadtpolitischer Hinsicht zeigt sich im deutsch-französischen Krieg
1870/71 dann aber, dass die alte Festungspolitik überholt war. Deshalb
ordnete Kaiser Wilhelm I. am 30.5.1873 die Entfestigung Wittenbergs an.
Nun begann auch für unsere Stadt die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts,
so dass Wittenberg die Möglichkeit erhielt, den Vorsprung anderer Städte
einzuholen.
Die Stadt dehnte sich nach Westen und Osten aus. Elbe, Landstraßen
und besonders die Eisenbahnlinie Wittenberg-Dessau boten gute Verkehrsbedingungen.
In der Folge, als erste industrielle Betriebe aus dem Fortschritt naturwissenschaftlicher,
vorrangig chemischer Erkenntnisse, in Deutschland entstanden, wurde Wittenberg
und die unmittelbare Umgebung als geeigneter Standort interessant. Die günstigen
Standortvoraussetzungen (Eisenbahnanbindung, Elbe, Elektroenergieerzeugung
aus Braunkohle im Bitterfelder Revier, verfügbare Arbeitskräfte)
waren der Grund für chemisch orientierte Ansiedlungen in Wittenberg,
nicht die Tatsache des früheren Universitätsstandortes.
Wichtige Industriezweige entstanden. Dazu zählen die metallverarbeitende
Betriebe (u.a. Eisenwerke Joly, Eisengießerei und Maschinenbau Wetzig),
die Nahrungs- und Genussmittelindustrie (u.a. Marmeladenfabrik Bourzutschky,
Kant Schokoladenfabrik, 'Milka' Nährmittelfabrik Pratau) und die chemischen
Betriebe (u.a Seifenpulverfabrik Dr. Thompson, Gummiwerke 'Elbit', Bayrische
Stickstoffwerke) sowie die Baustoffindustrie (u.a. Ziegelei Zastrow, Tonwarenfabrik
Brach, Witten-berger Steingutfabrik).
Wie sich die Wittenberger Betriebe im einzelnen entwickelt haben, wird an
vier ausgewählten Beispielen aus der chemischen Industrie gezeigt.
Dabei werden die wissenschaftlichen Leistungen dargestellt, die besonders
prädestiniert sind, um die Tradition der naturwissenschaftlichen Forschung
der ehemaligen Artistischen Fakultät zu repräsentieren.
Bis zur Ansiedlung der Chemiebetriebe, gab es in Wittenberg kaum wissenschaftlich-technisch
gebildete Bürger. Die Naturwissenschaften in ihrer stürmischen
Entwicklung spiegelten sich lediglich in der gymnasialen Studienvorbereitung
am Melanchthon-Gymnasium in einem bescheidenen Rahmen wider. Die Impulse
für den Aufbau einer damals modernen Chemieindustrie, bei der Deutschland
führend war, kamen von außen nach Wittenberg.
Mit der Errichtung und dem Betreiben dieser neuen Werke kam technische Intelligenz
nach Wittenberg. Die Forschung zur Weiterentwicklung der jeweiligen Produktpalette
blieb jedoch in den meisten Fällen zentralisiert in speziellen Forschungsinstituten.
Die Forschung des Stickstoffwerkes Piesteritz erfolgte z.B. am Kaiser-Wilhelm-Institut
in Berlin. Vor Ort erfolgte die technische Umsetzung und Produktkontrolle.
Die Werke entwickelten sich bis zum 2. Weltkrieg unterschiedlich, wobei
auch technisch-technologische Spitzenleistungen mit dem Standort in Beziehung
zu bringen sind. Die Herstellung von hochkonzentrierter Salpetersäure
oder die elektrothermische Gewinnung von Phosphor sind z.B. mit Piesteritz
verknüpft.
Der 2. Weltkrieg unterbrach abrupt die Entwicklung. Nach 1945 waren die
Wissensträger der Produktion entweder im Krieg gefallen oder vor der
russischen Besatzungsmacht geflohen. Die Wirtschaft generell und damit auch
die Betriebe lagen danieder. Die verbliebenen, zumeist weniger qualifizierten
Mitarbeiter wie Meister, Laboranten u.ä. gingen voller Elan und auch
mit Erfolg an die Wie-deraufnahme der Produktion gefragter Bedarfsartikel
in den verbliebenen Werken. Die auf Sprengstoff spezialisierte Firma WASAG
wurde 1945 demontiert.
Ein wissenschaftliches Leben in den Betrieben entstand langsam wieder mit
dem Eintritt akademisch und ingenieurtechnisch nach dem Kriege ausgebildeten
Personals Mitte der 50er Jahre. In allen Betrieben wurde nun wieder - und
das in stärkeren Maße als vor dem Krieg - geforscht und entwickelt.
Im Zuge dieser Forschungen/Entwicklungen existierten nun wieder Beziehungen
zu den Universitäten und Hochschulen im Rahmen von Vertragsforschung
und auch Qualifizierungen des wissenschaftlich-technischen Personals (Promotionen,
Diplom- und Ingenieurarbeiten, Fernstudien).
Die Stickstoffwerke Piesteritz etwa hatten 1970, bis zur Wende 1989, z.B.
eine intensive Zusammenarbeit mit der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
in den Bereichen Chemie und Pflanzenproduktion. Die Zahl der wissenschaftlich-technisch
ausgebildeten Mitarbeiter in der Industrie, hier wiederum in den Bereichen
der chemischen Industrie, erreichte ein beachtliches Niveau. Das Gummiwerk
unterhielt z.B. eine zentrale Forschungsstelle für die gesamten Gummi-Industrie
der DDR, im Stickstoffwerk waren ca. 100 wissenschaftlich ausgebildete Mitarbeiter
in der Forschung beschäftigt.
Mit der Wende 1989 wurde mit der Neuorientierung der Wirtschaft und der
Privatisierung auch die Forschung und Entwicklung in den verbliebenen Betrieben
neu gestaltet. Dieser Konzentrationsprozess ging mit einem personellen Abbau
der in der Forschung und Entwicklung tätigen Mitarbeiter einher. Die
bei diesem Prozess entlassenen Wissenschaftler und Ingenieure haben sich
in anderen Bereichen der Wirtschaft zumeist außerhalb von Forschungseinrichtungen
etabliert. Aus dem verbliebenen Potential der Betriebsforschung, die sich
am Standort Wittenberg nun im Wesentlichen auf das Stickstoffwerk Piesteritz
konzentriert, haben sich erneut Beziehungen zu diesen Universitäten
und Hochschulen entwickelt, darunter auch zur Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg im Rahmen von gemeinsamen wissenschaftlichen Projekten.