Wittenberg
- die kleine Stadt und ihre große Geschichte haben die Arbeit des
Predigerseminars mitgeprägt. Als im Jahre 1817, nur wenige Monate nach
dem Wittenberg infolge der napoleonischen Kriege aus einer sächsischen
zu einer preußischen Stadt geworden war, König Friedrich Wilhelm
III. den Zusammenschluss der Universitäten Halle und Wittenberg verfügte,
erhielten die Räume der alten Universität Wittenberg rund um den
Lutherhof ihre neue Bestimmung. Zahlreiche Bemühungen, die schon im
17. und 18. Jahrhundert auf einer Verbesserung der Vorbereitung zukünftiger
Pfarrer auf ihre Praxisausgaben gezielt hatten, veranlassten den Preußischen
König zu dem Entschluss, auch in Wittenberg ein Predigerseminar einzurichten.
Zunächst sollte das Wittenberger Seminar besonders geeigneten Kandidaten
der Theologie für eine zweijährige Fortbildungszeit Gelegenheit
zu wissenschaftlicher Vertiefung, religiöser Persönlichkeitsbildung
und praktischen Übungen bieten. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts
wurde der - dann einjährige - Besuch eines Predigerseminars in der
preußischen Kirche fester Bestandteil der Ausbildung aller Pfarrer.
Das Wittenberger Seminar blieb dabei durch den Bezug auf die Stätten
und das Erbe der Reformation, sowie durch pädagogische und sozial-diakonische
Traditionen und Initiativen bestimmt.
Eine tiefe Zäsur markiert im 20. Jahrhundert die Machtergreifung der
Nationalsozialisten in Deutschland: Denn seit 1933 war auch die Arbeit des
Predigerseminars durch den "Kirchenkampf" zwischen den staatshörigen
"Deutschen Christen" und der oppositionellen "Bekennenden
Kirche" bestimmt. Die Auseinandersetzung endete mit dem Auszug derjenigen
Vikare, die sich einer "Gleichschaltung" widersetzten.
Dass sich in der Arbeit des Predigerseminars das jeweilige Verhältnis
von Kirche und Staat und die Stellung der Kirche in der übrigen Gesellschaft
widerspiegelt, wurde ebenso deutlich in der DDR sichtbar. Dazu kam die Herausforderung
der Theologie durch die Humanwissenschaften. Seit den 60er Jahren nahm auch
die theologische Ausbildung verstärkt das Gespräch mit den Erfahrungswissenschaften
Psychologie, Pädagogik, Soziologie, Philosophie auf. In der Kirche
war die Auseinandersetzung mit dem Marxismus/Atheismus unumgänglich
und wurde in kritischer Solidarität und Distanz gesucht und geführt.
Dazu gehört auch die aktive Beteiligung am konziliaren Prozess der
Kirchen auf dem Weg zu "Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung".
Ein symbolträchtiger Höhepunkt war die durch Friedrich Schorlemmer,
Dozent am Predigerseminar, initiierte Schmiedeaktion "Schwerter zu
Pflugscharen" auf dem Hof des Predigerseminars/Lutherhof im Rahmen
des Kirchentages im Lutherjahr 1983.
Durch alle Etappen seiner Geschichte hindurch gab das Seminarleben auch
Raum und Gelegenheit zur Einübung von verbindlichen Formen gemeinsamen
Lebens. Das Wittenberger Seminar trug dazu bei, dass im Bereich der Ausbildung
das Sich-Begegnen und Miteinander-Lernen von angehenden Pfarrerinnen und
Pfarrern - seit der Wende auch mit westdeutschen biographischen Hintergrund
- aus den fünf östlichen Gliedkirchen der Evangelischen Kirche
der Union einen festen Platz hat.
Gemeinsam mit den Kandidatinnen und Kandidaten der Theologie gestalten die
Dozenten ein Lehr- und Lernangebot, das den Erfordernissen der gegenwärtigen
Kirche und den Bedürfnissen der jungen Pfarrerinnen und Pfarrer weitgehend
gerecht wird. Gottesdienst und Erwachsenenbildung, Konfirmandenunterricht
und Jugendarbeit, die seelsorgerliche Begleitung der Menschen von der Wiege
bis zur Bahre, auch in den kirchlichen Amtshandlungen, Sozialarbeit und
Kirchbau - und immer wieder eine alles begleitende musikalische Ausbildung
- das und vieles mehr sind Themen des gemeinsamen Lernens. Dabei ist auch
immer wieder das Gespräch der Theologie mit den Humanwissenschaften
Psychologie, Soziologie, Pädagogik und der Philosophie für die
Vorbereitung auf die Praxis wichtig.
Im Saal des Predigerseminars finden im Winterhalbjahr die Gottesdienste
der Schlosskirchengemeinde statt. Dort werden außerdem für eine
breite Öffentlichkeit monatlich eine "Musik im Seminar" und
im Frühlingshalbjahr ebenfalls monatlich eine "Sonntags-Vorlesung"
zu Themen der Reformationsgeschichte angeboten.
Das Predigerseminar ist grundsätzlich eng verbunden mit der Schlosskirche.
Sie war Hofkirche, Universitätskirche, vorübergehend auch Garnisonskirche,
später und bis heute unter der Verwaltung des Predigerseminars Übungskirche
für die Kandidaten der Theologie. Erst nach 1945 wurde eine kleine
Schlosskirchengemeinde gegründet. Die Verbindung zwischen Seminar und
Gemeinde ist auch dadurch lebendig, dass die Kantorin des Seminars gleichzeitig
auch Organistin, und die beiden theologischen Dozenten Prediger an der Schlosskirche
sind.
Tausende Touristen aus aller Welt, die auf dem Weg über den Lutherhof
zur Lutherhalle gehen, schreiten vorher durch die Vorhalle des Predigerseminars
im Augusteum. Dort halten sie inne unter dem großen Holzbalken und
lesen das Lutherwort: "Niemand lasse den Glauben daran fahren, daß
Gott eine große Tat an ihm tun will."
Das Evangelische Predigerseminar wurde bei seiner Gründung mit dem
Kernbestand der ehemaligen Universitätsbibliothek ausgestattet. Seit
1598 ist jene im Augusteum untergebracht. Heute ist die Bibliothek des Evangelischen
Predigerseminars mit über 100.000 Bänden eine der größten
Kirchenbibliotheken Deutschlands. Sie dient vor allem der Ausbildung der
Vikare und Vikarinnen. Die Einbeziehung der Sozialwissenschaften und die
Pflege des reformatorischen Erbes ließen einen Buchbestand wachsen,
den auch eine breitere Öffentlichkeit nutzt.
Der besondere Reichtum liegt jedoch im Altbestand - mehr als die Hälfte
aller Bücher wurden vor 1800 gedruckt. Einige mittelalterliche Handschriften
und etwa 200 Inkunabeln stammen aus den ehemaligen Wittenberger Klöstern
der Franziskaner und Augustiner-Eremiten. Das älteste Handschriftenfragment
reicht bis in das zehnte Jahrhundert zurück und enthält eine altsächsische
Psalmenübersetzung. Randglossen von Wittenberger Professoren - darunter
auch von Luther und Melanchthon - gewähren Einblicke in ihren Forschungsalltag.
Zwar überwiegt die Literatur zum universitären Gebrauch, doch
gelangten durch Schenkungen viele Kostbarkeiten in den Besitz der Bibliothek
(die aus Sicherheitsgründen hier leider nicht gezeigt werden können),
wie das Septembertestament, das Heiltumsbuch der Schlosskirche und die Lübecker
niederdeutsche Bibel von 1492. Zahlreich sind die sogenannten Wittenberger
Einbände mit ihrer reformatorischen Bildsymbolik vertreten. Es gibt
aber auch gotische Bücher mit Beschlägen, Kettenbücher und
Jugendstileinbände. Die sieben Bücher aus der Bibliothek des Bibliophilen
Nicolaus von Ebeleben zählen zu den weltweit schönsten im "Welschen
Stil".
10.000 Wittenberger Dissertationen, Hunderte akademische Reden, Gelegenheitsschriften
und Predigten zeugen von der Fülle der Wissenschaft aber auch vom Reichtum
an Poesie, Musik und geistlichem Leben an der Wittenberger Universität.
Die Bibliothek verfügt über eine Kunstsammlung von 70 Gemälden
mit Porträts von Professoren, Kurfürsten und Reformatoren. Die
umfangreiche Graphiksammlung hat hauptsächlich Holzschnitte und Kupferstiche
von Persönlichkeiten des 16. bis 18. Jahrhunderts zum Gegenstand. Der
verbesserten Nutzung des historischen Bestandes widmet sich seit drei Jahren
ein vom Arbeitsamt gefördertes Digitalisierungsprojekt. Dabei wurden
bereits über 500.000 Seiten gescannt.
Das
Predigerseminar hatte neben der Beteiligung an der Ausstellung "Wittenberg
nach der Universität" im 500-Jahr-Jubiläumsjahr 2002 auch
eine eigene Austellung unter dem Titel "ACADEMIA IUBILANS" veranstaltet.
Diese ist jetzt nline zu besichtigen unter http://www.predigerseminar.de/.