Wittenberg in der
preußischen Gerichtsorganisation (1820-1849)
Das höchste Gericht
für die rechtsrheinischen Provinzen des Königreichs Preußen,
zu der auch die Provinz Sachsen gehörte, war das Geheime Obertribunal
in Berlin.
Während seit 1815 feststand, daß in jedem Regierungsbezirk
der Provinz Sachsen ein Oberlandesgericht errichtet werden sollte, wurden
die örtlichen Justizbehörden erst zwischen 1820 und 1822 reorganisiert.
Die Zivilgerichtsbarkeit oblag kollegial besetzten Landgerichten, während
die Entscheidung von Bagatellsachen von Gerichtsämtern mit Einzelrichtern
wahrgenommen wurde. Dem Königl. Preuß. Landgericht Wittenberg
stand 1821-1824 Dr. Gottlob Friedrich Christoph Jungwirth als Landgerichtsdirektor
vor. Gerichtsamtmann für den Stadtbezirk Wittenberg war seit 1821
Johann Gottfried Henckel.
An die Stelle der Landgerichte und Gerichtsämter traten 1827 Stadt-
und Landgerichte. Ein solches Stadt- und Landgericht bestand auch in Wittenberg,
das mit den Stadt- und Landgerichten Halle, Naumburg und Torgau dem Oberlandesgericht
Naumburg unterstellt war.
Für die Untersuchung und Verfolgung von Strafsachen wurden für
die einzelnen Landgerichtsbezirke sogenannte Inquisitoriate eingerichtet.
Wittenberg verfügte über einen eigenen Scharfrichter. Dieses
Amt übte 1819 bis 1832 Johann Gotthard Große aus. Ihm folgte
1832 Johann Friedrich Gotthard Große.
Die Rechtsprechung
beruhte weitgehend auf dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von
1794 und der Allgemeinen Gerichtsordnung von 1793/1795. Daneben galt das
Gemeine Recht.
Das Wittenberger Stadt- und Landgericht tagte weiterhin im Rathaus.
In diese Periode Wittenberger Justizgeschichte fällt auch der berühmt-berüchtigte
Prozeß gegen den Raubmörder Wollkopf, der 1834 mit der letzten
öffentlichen Hinrichtung in Wittenberg endete. Nach Vollzug der Strafe
wurde eine entsprechende Mitteilung veröffentlicht.
Warnungs-Anzeige.
E r n s t E l i a s F r i e d r i c h W o l l k o p f,
25 Jahr alt, in dem
Herzogl. Gothaischen Marktflecken Herbsleben geboren, Sohn des dortigen
Chirurgus Gottlieb Wollkopf und der Johanne Rebecca gebornen Pabst, evangelischen
Glaubens, erlernte die Fleischerprofession und nach seiner Lossprechung
zum Gesellen trat er im Jahre 1830 die Wanderschaft an, arbeitete im Spätsommer
1831 bei dem Fleischermeister Ernst Hönicke in Pretzsch und machte
im nahgelegenen Dorfe Priesitz die Bekanntschaft des aus Wasserjentzsch
bei Breslau gebürtigen Mühlburschen Gottfried Herrmann.
Schon in seiner Jugend ließ er sich zu Paschereien gebrauchen; im
Jahre 1829 drang er in verbrecherischer Absicht eines Nachts durch Eindrücken
eine Hausthür gewaltsam in ein Haus zu Herbsleben ein, verübte
hauptsächlich seit dem Jahre 1830 eine Menge kleiner und großer
Diebstähle und Betrügereien in Globig, Helmstädt, Rennau,
Priesitz, Barleben, Dessau, Rösa, Burgkemnitz, Göttingen, Trebitz,
Bietegast u. s. w., machte sich auch der wiederholten Verfälschung
seines Passes schuldig.
Er liebte den Trunk, war öfter in Geldverlegenheit, welche bei seiner
Dienstlosigkeit durch Mangel an Verdienst stieg, und so ward er zum Verbrecher.
Auf Mittel sinnend, sich Geld zu verschaffen, verfiel er auf den Gedanken,
den Mühlburschen Herrmann, der auf der vom Dorfe Priesitz etwas
entfernt liegenden Windmühle übernachtete, zu bestehlen, und
wenn seinem Entkommen sich ein Hinderniß entgegenstellen würde,
den Herrmann zu tödten.
Mit solchen Gedanken und versehen mit einem nicht lange vorher erkauften
und frisch geschliffenen Schlachtemesser ging Wollkopf am 10. December
1831 auf die Priesitzer Windmühle, fand dort aber den Herrmann nicht
und mußte, nachdem er bis Morgens gegen 4 Uhr vergebens auf dessen
Rückkehr gewartet hatte, unverrichteter Sache abgehen.
Hierdurch nicht gewarnt, ging er schon am 12. December 1831, Abends nach
10 Uhr, wiederum mit dem frischgeschliffenen Schlachtemesser versehen,
abermals auf die Priesitzer Windmühle, die ihm von dem arglosen Herrmann
gastfreundschaftlich geöffnet wurde. Um dem Wollkopf ein besseres
Nachtquartier, als der beengte Raum auf der Windmühle gestattete,
im Dorfe Priesitz zu verschaffen, wollte Herrmann mit Wollkopf von der
Windmühle herabgehen; während er indeß die Mühlthür
von außen zu verschließen im Begriff war, ergriff Wollkopf
auf einmal die silberne Uhrkette des Herrmann und zog damit dessen silberne
Taschenuhr aus der Hosentasche heraus, wurde augenblicklich von dem Herrmann
ergriffen, beide rutschten die Mühltreppe herab und da Herrmann auch
am Fuße der Treppe den Wollkopf nicht losließ, so zog letzterer
sein Messer heraus und stach damit den Herrmann in die Brust. Lautlos
fiel dieser nieder, erhielt aber dennoch noch mehrere Stiche mit dem Messer
und mehrere Schläge vor den Kopf mit einer großen Keule von
Wollkopf. Letzterer eilte nun nach der Windmühle zurück, raffte
den größten Theil der dort befindlichen Effecten des Herrmann
zusammen und mit seiner Beute beladen irrte er unstät von Ort zu
Ort.
Dem Verbrechen folgte bald die Entdeckung; verschiedene Umstände
machten den Wollkopf der That verdächtig und schon am 15. December
1831 wurde er in Kropstädt arretirt und an das unterzeichnete Inquisitoriat
eingeliefert. Der überführendsten Beweise ungeachtet leugnete
er lange sein Verbrechen und legte erst nach drei Monaten das Geständniß
der That ab, limitirte solches nach neun Monaten, indem er einen seiner
Bekannten der Theilnahme an seinem Verbrechen beschuldigte, diesem sogar
diese Beschuldigungen ins Gesicht wiederholte, endlich aber nach Verlauf
vieler Monate solche zurückzunehmen sich von freien Stücken
bewogen fand.
Zwei von den größten Gewaltthätigkeiten gegen den Gefangenwärter
und dessen Gehülfen begleitete Versuche des Wollkopf, sich aus dem
Gefängnis zu befreien, scheiterten.
Zwei gleichlautende Erkenntnisse des Königl. Oberlandesgerichts zu
Naumburg verurtheilten ihn wegen des verübten Raubmords zum Rade
von oben und S e. M a j e s t ä t d e r K ö n i g bestätigten
diesen richterlichen Ausspruch durch die Allerhöchste Ordre vom 11.
März dieses Jahres.
Heute früh 6 Uhr ist jene Strafe an dem Wollkopf vollstreckt worden,
welches zur Warnung hierdurch öffentlich bekannt gemacht wird.
Wittenberg den 9. Mai 1834.
K ö n i g l.
P r e u ß. I n q u i s i t o r i a t.
Redlich
(nach H. Kühne: Vom Wittenberger Rechtswesen, von Scharfrichtern
und ihren Tätigkeiten, Lutherstadt Wittenberg 1994)
Gericht zwischen Paulskirche und Reichseinheit (1849-1871)
Im Gefolge der revolutionären
Ereignisse von 1848 traten weitere Änderungen in der Gerichtsverfassung
der preußischen Provinz Sachsen ein. Die Oberlandesgerichte wurden
in Appellationsgerichte umgewandelt. Sie waren Mittelinstanzen im Verhältnis
zum Geheimen Obertribunal in Berlin. Als Unterinstanzen fungierten kollegial
besetzte Kreisgerichte. Zum Zuständigkeitsbereich des Appellationsgerichts
Naumburg gehörte wiederum das Kreisgericht Wittenberg (neben den
Kreisgerichten Delitzsch, Eilenburg, Eisleben, Erfurt, Halle, Langensalza,
Liebenwerda, Merseburg, Naumburg, Querfurt, Sangerhausen, Suhl, Torgau
und Zeitz). Als Kreisgerichtsdirektor in Wittenberg ist 1854 Carl Friedrich
Heinrich von Steltzer nachweisbar. Von 1855 bis nach 1870 hatte Curt Ernst
Frhr. von Manteuffel dieses Amt inne. Neben Zivil- und Strafsachen gehörten
auch Handelssachen in die Kompetenz der Kreisgerichte.
Wenn auch die Reichsverfassung der Paulskirchenversammlung von 1849 ein
Entwurf geblieben war, so wurde doch auf der Grundlage ihres § 167
in fast allen deutschen Staaten die Patrimonialgerichtsbarkeit abgeschafft.
Fortan sollte die Gerichtsbarkeit einzig und allein dem Staat zustehen.
In Preußen erging unter dem 2. Januar 1849 die Verordnung über
die Aufhebung der Privatgerichtsbarkeit und des eximierten Gerichtsstandes
sowie über die anderweitige Organisation der Gerichte. Für Wittenberg
und alle anderen Städte Preußens bedeutete das die Abschaffung
der städtischen Gerichtsbarkeit. In § 1 der Verordnung heißt
es: "Die standesherrliche, städtische und Patrimonialgerichtsbarkeit
jeder Art in Civil- und Strafsachen wird aufgehoben."
Das anzuwendende Recht stellten weiterhin das Allgemeine Preußische
Landrecht und die Allgemeine Gerichtsordnung dar. Das Strafrecht erfuhr
im Jahre 1851 eine Neukodifikation in Gestalt eines bürgerlichen
(relativ modernen) Strafgesetzbuches. Materielle Rechtsgrundlagen für
das Handelsrecht bildeten die Allgemeine Deutsche Wechselordnung von 1848
und das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch von 1861.
Von der Reichseinheit zur Rechtseinheit (1871-1900)
Die nächsten
größeren Einschnitte in der Gerichtsverfassung erfolgten nach
der Reichsgründung mit dem Gerichtsverfassungsgesetz für das
Deutsche Reich vom 27. Januar 1877, das am 1. Oktober 1879 in Kraft trat.
An der Spitze dieser Gerichtsverfassung stand das Reichsgericht Leipzig.
In jeder Provinz des Königreichs Preußen bestand ein Oberlandesgericht
- für die preußische Provinz Sachsen wiederum in Naumburg.
Zu seinem Zuständigkeitsbereich gehörten jetzt in zweiter Instanz
die Landgerichte Eisleben, Erfurt, Halberstadt, Halle, Magdeburg, Naumburg,
Nordhausen, Stendal und Torgau sowie 125 Amtsgerichte, welche die unterste
Instanz des neuen Gerichtsaufbaus bildeten. Eines dieser 125 Amtsgerichte
in der preußischen Provinz Sachsen war das Amtsgericht Wittenberg,
dessen übergeordnete Instanz das Landgericht Torgau war. Seine sachliche
Zuständigkeit erstreckte sich in der Besetzung mit einem Einzelrichter
im wesentlichen auf bürgerliche Rechtsstreitigkeiten. Für die
Verhandlung und Entscheidung von geringfügigen Strafsachen war das
bei jedem Amtsgericht - so auch in Wittenberg - gebildete Schöffengericht
zuständig. In dieser Form erhielt sich die Gerichtsverfassung bis
in das 20. Jh. hinein und besteht in ihren wesentlichen Grundstrukturen
noch heute.
Nach 1871 wurde nicht nur die Gerichtsverfassung sondern auch das materielle
Recht (Gesetzbücher) und formelle Recht (Prozeßordnungen) vereinheitlicht.
Als erste große Kodifikation nach der Reichsgründung trat 1872
das Reichsstrafgesetzbuch in Kraft. Es verdrängte damit das etwa
zwanzig Jahre zuvor entstandene preußische Strafgesetzbuch von 1851.
Im Jahre 1877 entstanden ferner die Reichsstrafprozeßordnung und
die Zivilprozeßordnung, die ebenfalls 1879 in Kraft traten. Rechtsgrundlagen
für die Zivilrechtsprechung in Preußen blieben weiterhin das
Allgemeine Landrecht von 1794 sowie viele Einzelgesetze und -verordnungen.
Hier brachte erst das Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches
für das Deutsche Reich am 1. Januar 1900 eine Vereinheitlichung und
enorme Modernisierung.
Zu Beginn des 20. Jh. entstand das neue Gebäude für das Amtsgericht,
in dem es auch noch heute sein Domizil hat. In unmittelbarer Nachbarschaft
wurde die dazu gehörige Arrestanstalt errichtet.
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