Wittenberg als Stadt des Rechts im 19. Jahrhundert

Auf Grund der Funktion als Universitätsstadt einerseits und als Residenz der sächsischen Kurfürsten andererseits war Wittenberg bis kurz nach 1800 Sitz mehrerer landesherrlicher Gerichtsbehörden und Spruchkörper sowie eines Stadtgerichts. Zu den ersteren gehörten das kurfürstlich-sächsische (seit 1806 königlich-sächsische) Hofgericht zu Wittenberg, das Konsistorium, der Schöffenstuhl und das Spruchkollegium der Wittenberger Juristenfakultät. Die Spruchtätigkeit dieser Institutionen wirkte weit über Kursachsen hinaus.

Mit dem faktischen Niedergang der Universität im Jahre 1813 und dem Anschluß an Preußen 1815 endete schlagartig die Rolle Wittenbergs als Zentrum kursächsischer Rechtsprechung, welche der Stadt seit dem frühen 16. Jh. zugewachsen war. Als Stadt in der 1815 gebildeten preußischen Provinz Sachsen unterfiel sie den Justizreformen des preußischen Staates, in deren Ergebnis Wittenberg lediglich Sitz eines Stadtgerichts und eines Kreis- (später Amts-) gerichts blieb. Damit unterschied es sich in keiner Weise von anderen preußischen Städten. Die einstige überregionale Rolle als Ort der Rechtsprechung war für immer verloren.

Grundlage dieser Umgestaltung war zunächst die Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzial-Behörden vom 30. April 1815. Schon 1813 hatten die Preußen ein General-Gouvernement für Sachsen eingerichtet, welches zum Zuge der Neuorganisation der Behörden am 1. April 1816 seine Tätigkeit einstellte. Schon 1814 war festgelegt worden, daß die "Gerichtsbarkeit in den Städten und auf dem platten Lande ... durch Land- und Stadtgerichte" ausgeübt werden sollte.

Während seit 1815 feststand, daß in jedem Regierungsbezirk der Provinz Sachsen ein Ober-landesgericht errichtet werden sollte, wurden die örtlichen Justizbehörden erst zwischen 1820 und 1822 reorganisiert. Die Zivilgerichtsbarkeit oblag kollegial besetzten Landgerichten, während die Entscheidung von Bagatellsachen von Gerichtsämtern mit Einzelrichtern wahrgenommen wurde. An ihre Stelle traten 1827 Stadt- und Landgerichte. Ein solches Gericht bestand auch in Wittenberg, das mit den Stadt- und Landgerichten Halle, Naumburg und Torgau dem Oberlandesgericht Naumburg unterstellt war. Für die Verfolgung und Entscheidung von Strafsachen wurden bei den Landgerichten soge-nannte Inquisitoriate eingerichtet.

Im Gefolge der revolutionären Ereignisse von 1848 traten weitere Änderungen in der Gerichtsverfassung der preußischen Provinz Sachsen ein. Die Oberlandesgerichte wurden in Appellationsgerichte umgewandelt. Zum Zuständigkeitsbereich des Appellationsgerichts Naumburg gehörte wiederum das Kreisgericht Wittenberg (neben den Kreisgerichten Delitzsch, Eilenburg, Eisleben, Erfurt, Halle, Langensalza, Liebenwerda, Merseburg, Naumburg, Querfurt, Sangerhausen, Suhl, Torgau und Zeitz). Wenn auch die Reichsverfassung von 1849 ein Entwurf geblieben war, so wurde doch auf der Grundlage ihres § 167 in fast allen deutschen Staaten die Patrimonialgerichtsbarkeit abgeschafft. Fortan sollte die Gerichtsbarkeit einzig und allein dem Staat zustehen. In Preußen erging unter dem 2. Januar 1849 die Verordnung über die Aufhebung der Privatgerichtsbarkeit und des eximierten Gerichtsstandes sowie über die anderweitige Organisation der Gerichte. Für Wittenberg und alle anderen Städte Preußens bedeutete das die Abschaffung der städtischen Gerichtsbarkeit. In § 1 der Verordnung heißt es: "Die standesherrliche, städtische und Patrimonialgerichtsbarkeit jeder Art in Civil- und Strafsachen wird aufgehoben."

Die nächsten größeren Einschnitte in der Gerichtsverfassung erfolgten nach der Reichsgrün-dung mit dem Gerichtsverfassungsgesetz für das Deutsche Reich vom 27. Januar 1877, das am 1. Oktober 1879 in Kraft trat. An der Spitze dieser Gerichtsverfassung stand das Reichsgericht Leipzig. In jeder Provinz des Königreichs Preußen bestand ein Oberlandesgericht - für die preußische Provinz Sachsen wiederum in Naumburg. Zu seinem Zuständigkeitsbereich gehörten jetzt in zweiter Instanz die Landgerichte Eisleben, Erfurt, Halberstadt, Halle, Magdeburg, Naumburg, Nordhausen, Stendal und Torgau sowie 125 Amtsgerichte, welche die unterste Instanz des neuen Gerichtsaufbaus bildeten. Eines dieser 125 Amtsgerichte in der preußischen Provinz Sachsen war das Amtsgericht Wittenberg, dessen übergeordnete Instanz das Landgericht Torgau war. In dieser Form erhielt sich die Gerichtsverfassung bis in das 20. Jh. hinein. Nach den Unterbrechungen zwischen 1933 und 1945 sowie zwischen 1949 und 1990 gilt die zuletzt skizzierte Gerichtsverfassung im wesentlichen bis heute.

Abgesehen von der Ebene der Gerichtsverfassung traten 1815 gravierende Veränderungen in dem in Wittenberg fortan anzuwendenden materiellen Recht und Verfahrensrecht ein. Wittenberg lag bis zum frühen 19. Jh. im Geltungsbereich des "Gemeinen Sachsenrechts". Das war jene Rechtsordnung, die sich während des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit auf der Grundlage des Sachsenspiegels und des Magdeburger Stadtrechts, ergänzt durch zahlreiche landesherrliche Gesetzgebungsakte, für die sächsischen, thüringischen und brandenburgischen Gebiete herausgebildet hatte. Das bedeutet, daß auch in Wittenberg die kursächsischen und königlich-sächsischen Gesetze und Verordnungen Anwendung fanden. Ein wichtiges Sammelwerk der sehr unübersichtlichen Rechtsvorschriften war der 1724 von Johann Christian Lünig herausgegebene, in den Folgejahren mehrfach fortgesetzte, Codex Augusteus. Er enthielt alle wesentlichen Rechtsvorschriften, die auch von den Wittenberger Justizbehörden bis 1813 angewendet wurden.

Als 1815 die Rechtsordnung wechselte, indem die preußischen Gesetze in Kraft gesetzt wur-den, stand den Wittenberger Richtern ein umfangreiches Gesetzbuch zur Verfügung, das nahezu vollständig das Recht des preußischen Staates in sich vereinte: das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 (ALR). Das Verfahrensrecht war in der Allgemeinen Preußischen Gerichtsordnung von 1793 (1795 im Druck erschienen) geregelt. Rechtsgrundlagen dieser Veränderungen waren das Patent wegen Wiedereinführung des Allgemeinen Landrechts und der Allgemeinen Gerichtsordnung, in die von den Preußischen Staaten getrennt gewesenen, mit denselben wieder vereinigten Provinzen vom 9. September 1814 und das Patent wegen Einführung der Allgemeinen Gerichts- und Kriminal-Ordnung in die mit den Preußischen Staaten vereinigten ehemals Sächsischen Provinzen und Distrikte, und Umleitung der nach den Vorschriften der Sächsischen Prozeßordnung bereits anhängig gemachten Prozesse in die Form der Preußischen Allgemeinen Gerichtsordnung vom 22. April 1816.

Fortan war auch in Wittenberg preußisches Recht anzuwenden. Zu seinen wichtigsten Kodifikationen gehörten im Jahre 1815 das Allgemeine Landrecht (1794) und die Allgemeine Gerichtsordnung (1793). Im Jahre 1851 wurde das preußische Strafrecht in Gestalt eines bürgerlichen Strafgesetzbuches neu kodifiziert. Zwanzig Jahre später wurde es durch das Reichsstrafgesetzbuch abgelöst. Rechtsgrundlagen für die Zivilrechtsprechung blieben weiterhin das (ALR) und viele Einzelgesetze bzw. -verordnungen. Hier brachte erst das Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich am 1. Januar 1900 eine Vereinheitlichung und enorme Modernisierung.

Das Wittenberger Stadt- und Landgericht tagte übrigens auch noch während des 19. Jahrhunderts im Rathaus. Erst zu Beginn des 20. Jh. entstand das neue Gebäude für das Amtsgericht, in dem es auch noch heute sein Domizil hat.

Prof. Dr. Heiner Lück (Halle/Saale)

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