In
den letzten beiden Jahrhunderten ist Wittenberg 177 Jahre lang eine Stadt
ohne Universität gewesen: 1817 war die Universität Leucorea aufgehoben
worden administrativ vollzogen als Vereinigung mit der Friedrichs-Universität
zu Halle/Saale. 177 Jahre später, 1994, erfolgte die Gründung
der Stiftung Leucorea, die sich in der historischen Kontinuität zur
Universität sieht. Sie operiert als eigenständig verwaltete Außenstelle
der Universität in Halle, und als ihre wesentliche Aufgabe wurde formuliert,
zur Wiederbelebung akademischen Lebens in Wittenberg beizutragen.
Von Interesse ist daher, woran diese Wiederbelebung vor Ort anknüpfen
kann.
In der Tat hat es zwischen 1817 und 1994 in Wittenberg zwar kein akademisches
Leben im engeren Sinne gegeben, sehr wohl hingegen fanden Wissenschaft und
(Höhere) Bildung in relevantem Umfang statt: Auch an Orten ohne Universität
vermag Entsprechendes zu entstehen aus praktischen Gründen,
bspw. solchen der technologisch-industriellen Innovation, aus strukturpolitischen
Gründen, die zur Ansiedlung nichtuniversitärer Forschungs- und
Bildungseinrichtungen führen, aus kulturellen Motiven bildungsbürgerlicher
Distinktions- oder proletarischer Bildungsbedürfnisse, aus historischen
Gründen etwa des Vorhandenseins überregional bedeutender Archive
usw.
Obgleich Wittenberg mit der Universität etwas für seine städtische
Existenz und sein Selbstverständnis sehr Gewichtiges verloren hatte,
entwickelte die Stadt alsbald aus sich heraus auch wieder Eigenes und schöpfte
Kräfte aus anderen Quellen. Eine Wittenberger Besonderheit hierbei
besteht darin, dass sich in der Stadt seit dem Ende des 16. Jahrhunderts
zwei Linien wissenschaftlicher und wissenschaftsnaher Aktivitäten unterscheiden
lassen: die reformationsbezogenen und die nicht auf die Reformation bezogenen.
Wittenberg hatte sein städtisches Leben gleichermaßen als Erbeverwalterin
der Reformation wie als ganz normale Stadt mit jeweils aktuellen
und in die Zukunft gerichteten Interessen zu gestalten. Diese Doppelgleisigkeit
prägte auch ihr 19. und das 20. Jahrhundert. Die derart gezogenen Spuren
freizulegen, zu dokumentieren, zu systematisieren und damit dem öffentlichen
Bewusstsein verfügbar zu machen ist Anliegen des Projekts.
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