Vier Anläufe: Soziologie an der Universität Halle-Wittenberg. Bausteine zur lokalen Biografie des Fachs vom Ende des 19. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts

Die Soziologie an der Universität Halle-Wittenberg hatte eine bewegte Geschichte. Insgesamt benötigte sie vier Anläufe zu ihrer Institutionalisierung, angefangen bei der Einrichtung des ersten Lehrstuhls für Soziologie 1930 (bis 1933) und des ersten Instituts für Soziologie 1947 (bis 1949) über den Wissenschaftsbereich Soziologie an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät (1965-1990) bis hin zur Neugründung des heutigen Instituts für Soziologie 1992. Aufbauend auf zwei Lehrforschungsprojekten ist diese Geschichte nun erstmals aufgearbeitet worden.
Die Anlässe: 1963, mithin vor 50 Jahren, hatte in Gestalt einer “Kommission für konkret-soziologische Forschung” ein Vorbote des nachmaligen Wissenschaftsbereichs Soziologie die Arbeit aufgenommen. Zudem jährt sich 2013 zum achtzigsten Mal die Vertreibung des ersten Lehrstuhlinhabers für Soziologie an der Universität Halle: 1933 hatte Friedrich Hertz unter Lebensgefahr die Saalestadt verlassen müssen. Trotz der institutionellen Brüche, bewirkt auch durch die deutsche Vereinigung, wird nunmehr an der Martin-Luther-Universität seit 50 Jahren ununterbrochen soziologisch gelehrt und geforscht.
Zunächst wurde die Vorgeschichte seit dem Ende des 19. Jahrhundert erhellt. Sie verbindet sich mit Namen wie Gustav Schmoller, Albert Hesse, Rudolf Stammler, Heinrich Waentig, Richard Thurnwald, Ernst Grünfeld oder Gustav Boehmer. Daran schloss sich die Aufbereitung der einzelnen Etappen an, beginnend bei Friedrich Hertz, der 1930 den ersten Soziologielehrstuhl in Halle besetzte und 1933 von den Nationalsozialisten vertrieben wurde. In der zweiten Hälfte der 1940er Jahre hatte es an der MLU ein erstes Institut für Soziologie und weitere fachlich einschlägige Aktivitäten gegeben. Zentrale Namen hier sind Max Gustav Lange und Leo Kofler. Beide verließen 1950 die DDR.
1963 begann ein neuer Anlauf mit der Gründung der “Kommission für konkret-soziologische Forschung”. Es folgte 1965 die Bildung einer “Soziologischen Abteilung”, später dann “Wissenschaftsbereich Soziologie” an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Dessen inhaltliche Schwerpunkte lagen in der Arbeits- und Industriesoziologie. Damit wurde die Universität Halle Teil einer sozialtechnologischen Rationalisierung des politischen Steuerungshandelns, das sich nun auch der zuvor als bürgerlich inkriminierten Soziologie bedienen wollte. Seit 1976 gab es einen eigenen Diplomstudiengang. Damit war Halle einer von nur drei Standorten, an denen in der DDR Soziologen und Soziologinnen ausgebildet wurden (die anderen Orte waren die Humboldt-Universität zu Berlin und die Universität Leipzig; überdies gab es an der Universität Rostock ein Fernstudium Soziologie).
Zum Wissenschaftsbereich Soziologie konnte die umfängliche Aktenhinterlassenschaft des Wissenschaftsbereichs ausgewertet werden. Die Forschung des Wissenschaftsbereichs hatte ein grundsätzliches und durchgehendes Hauptthema: das Verhältnis der Menschen zur Arbeit, und zwar systemspezifisch vor allem das sozialistische Verhältnis zur Arbeit. Dabei wurde insbesondere die Kollektivität der Arbeit als Quelle individueller Anerkennung betrachtet – dies vorzugsweise im Kontrast zur Hausarbeit von Frauen. Das Forschungsprogramm fand sich durch zahlreiche Projekte in den Bereichen Arbeits-, Industrie- und Berufssoziologie (AIBS) untersetzt. Arbeitsmotivation, Schichtarbeit, Arbeitsverhalten oder das “kulturell-technische Niveau der Werktätigen” waren entsprechende Forschungsthemen. Politisch wurden vom Wissenschaftsbereich Soziologie Beiträge zur Optimierung von Arbeitsprozessen in der Industrie erwartet. Vollständig pflegeleicht waren die MLU-Soziologen dabei nicht, wie man auch in der westdeutschen DDR-Forschung wahrnahm: So wagte der Hallenser Arbeitssoziologe Rudhard Stollberg als einziger eine grundsätzliche Kritik an der Schichtarbeit.
Allerdings erschöpft sich die hallesche Soziologiegeschichte der 1960er bis 80er Jahre nicht in der Tätigkeit des Wissenschaftsbereichs. An mehreren anderen Einrichtungen der Martin-Luther-Universität war ebenfalls soziologisch gearbeitet worden, so zur Literatur-, Medizin- oder Sportsoziologie. Daher wurden auch diese Aktivitäten dokumentiert.

Zitation

Peer Pasternack / Reinhold Sackmann (Hrsg.): Vier Anläufe: Soziologie an der Universität Halle-Wittenberg. Bausteine zur lokalen Biografie des Fachs vom Ende des 19. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2013, 256 S., ISBN 978-3-95462-070-8

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